Das Bahnkraftwerk Muldenstein
Nach den ersten positiven Versuchen mit Wechselstrom auf den Strecken Niederschöneweide – Spindlersfeld und bei der Hamburger Stadt- und Vorortbahn beschloss der preußische Staat für den Versuchsbetrieb der elektrischen Zugförderung die Mittel zur Verfügung zu stellen.
Für den Versuchsbetrieb in Mitteldeutschland wurde als ein geeigneter Standort Muldenstein für ein Bahnkraftwerk gefunden. Ausschlaggebend für den Standort, der nicht unmittelbar an der als erstes zu elektrifizierenden Strecke Bitterfeld – Dessau lag, waren die kurzen Transportwege von den Braunkohlentagebauen und die unmittelbare Nähe der Mulde, die als Kühl- und Speisewasserquelle diente.
Durch die Gestaltung des Geländes konnte man auf die Aufschüttung einer Rampe für den Kohlentransport in das Kesselhaus verzichten, allerdings musste das Kesselhaus und das Maschinenhaus sehr tief gelegt werden um ein genügendes natürliches Gefälle für den Kühlwasserzulauf von der Mulde zu erhalten. Für den anfänglichen Betrieb waren 5000-6000 m³ Kühlwasse/Stunde erforderlich. Bei der späteren Erweiterung war ein Kühlwasserbedarf von 10000-12000 m³ pro Stunde vorgesehen. Diese Wassermengen stehen in der Mulde selbst bei niedrigstem Wasserstand zur Verfügung.
In einem ersten Bauabschnitt ab 1. Januar 1910 wurde nur eine provisorische Anlage errichtet, deren Fundamente, Kessel und Schornstein aber für die endgültige Ausführung zu nutzen war.
Am 5. Januar 1911 wurde die erste Dampfturbine in Muldenstein angefahren. Der Probebetrieb begann.
Die Gründung der Gebäude des Kraftwerkes Muldenstein erfolgte zum Teil direkt in einem Braunkohlenlager. Damit der Baugrund für die drei im Kesselhaus stehenden und 103,6 m hohen und insgesamt bis zu 3836 t schweren Schornsteine genügend tragfähig war, erfolgte z.b beim Schornstein III eine Gründung auf 201 sogenannten Straußschen Betonpfählen. Sie reichen bis zu 15,9 m in den Untergrund. Die Schornsteine I und III besitzen in jeweils 29 m Höhe einen ringförmigen eisernen Wasserbehälter mit einem Fassungsvermögen von je 75 m³ Inhalt für das Kesselspeisewasser.
Das Kesselhaus ist 94,03 m lang und 33,24 m breit und bis zum Oberlicht 26,60 m hoch. Um jeden der drei Schornsteine waren 8 Kessel gruppiert. In das Kesselhaus führen auf jeder Seite zwei Gleise über die Kohlenbunker. Die Bunker wurden aus Beton errichtet da man sonst auf Grund der verwendeten stark wasserhaltigen Braunkohle eine vollständig dichte Vernietung der einzelnen Bleche nicht hätte verzichten können. Insgesamt 24 Trichter oder Taschen konnten von oben befüllt werden. Alle Bunker zusammen fassen 4000 m³ Braunkohle.
Die Kohlenwagen wurden über eine Steigung von 1: 40 vom Bahnhof Muldenstein bis auf die Brücken vor dem Kesselhaus herauf geschoben. Ab dort wurden sie mit einer Seilrangieranlage auf die Entladeposition gezogen.
Das 6 m neben dem Kesselhaus stehende Maschinenhaus ist 93,79 m lang, 24,50 m breit und bis zu den Oberlichtern 24,5 m hoch. Hier befanden sich neben den Turbinen und Generatoren auch die Pumpen für das Kesselspeise- und Kondensationswasser, die Rohrleitungen, die Kondensatoren und die Luftkühlanlagen der Generatoren. Über eine Kranbahn konnte jeder Punkt der Halle erreicht werden.
Das Schalthaus ist 67,02 m lang, 22,81 m breit und 13m hoch. Die 11 Transformatorenzellen liegen nebeneinander an der Nordseite des Schalthauses. Das der Umgang mit solchen Transformatoren noch ein wenig technisches Neuland bedeutete möge die folgende zeitgenössische Beschreibung aus der "Zeitschrift für Bauwesen" von 1914 verdeutlichen.
Für den Fall einer Explosion eines Transformators wird das brennende und herunterfließende Öl aus jeder Zelle durch eine 0,40 cm im Lichten weite unterirdische Tonrohrleitung nach zwei je 11 cbm fassenden unterirdischen gemauerten runden Schächten geleitet, die durch einen mit Löchern versehenen gusseisernen Deckel verschlossen sind. Es wird angenommen, daß das Öl auf dem Wege dahin infolge mangelnder Luftzufuhr verlöscht und weiteren Schaden nicht anrichten kann.
Neben diesen Gebäuden gehörten noch ein „Wohlfahrtsgebäude“ mit zahlreichen Wasch- und Badegelegenheiten, einige Beamten- und Arbeiterwohnhäuser, der Ölkeller und das Gebäude für die Aschenabsaugvorrichtung zum Kraftwerk.
Über 4 Drehscheiben (2 zu je 12 m Durchmesser, eine 6 m Scheibe und eine 3 m Scheibe) waren die Aschenabsaugung, das Maschinenhaus und das Schalthaus des Kraftwerks angeschlossen.
Während des ersten Weltkrieges war der elektrische Zugbetrieb ab dem 4. August 1914 eingestellt, das Kraftwerk diente in dieser Zeit zur Stickstoffgewinnung und wurde ab 1921 wieder zur Bahnstromversorgung genutzt. Über eine 60 kV-Bahnstromleitung wurden die Unterwerke Gommern, Marke und Wahren (b. Leipzig) versorgt.
Zwischen 1937 und 1941 wurden große Teile der Kessel- und Generatorenanlage neu gebaut.
Am 23. April 1945 wurde das Kraftwerk in Folge der Kriegshandlungen außer Betrieb genommen. Ab Mitte Juli 1945 wurde nach dem Ende des Krieges von Muldenstein aus wieder Bahnstrom geliefert. Einige Strecken wurden wieder in Betrieb genommen.
Mit dem Befehl Nr. 95 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) wurde die Einstellung des elektrischen Betriebes in der sowjetischen Besatzungszone verfügt. Alle Anlagen des elektrischen Zugbetriebes waren für Reparationszwecke zu demontieren. Auch die fünf 11,3 MW Bahnstromgeneratoren, 17 Dampfkessel, zwei 3,2 MW Hausmaschinen und alle Transformatoren und Schaltanlagen des Kraftwerkes Muldenstein und alle Einrichtungen in den Unterwerken waren zu demontieren, zu verpacken und für den Abtransport in Richtung Sowjetunion vorzubereiten.
Die Kraftwerksgebäude dienten nach dem Abtransport der Technik als Reparaturwerkstatt.
Die DR konnte in einem Abkommen von 1952 die Kraftwerksanlagen und Elektrolokomotiven von der Sowjetunion gegen Lieferung von 355 Weitstreckenwagen, geliefert von der Waggonfabrik Lindner in Ammendorf „zurückkaufen“.
Während sich die Lokomotiven nach der Rückkehr teilweise in einem sehr schlechten Zustand befanden zeigten sich die meisten Kisten mit den Kraftwerksausrüstungen noch in dem Verpackungszustand, in dem sie 1946 an die Sowjetunion abgeliefert wurden.
Mit dem Neuaufbau des Kraftwerkes Muldenstein wurde der Grundstein für die elektrische Zugförderung in der DDR gelegt.
Anstelle der überalterten Dampfturbinen I und II traten 50 Hz Generatoren, so das daraus Umformer entstanden.
Am 12. Mai 1964 erhielt das Reichsbahnkraftwerk Muldenstein den Ehrennamen „Deutsch-Sowjetische Freundschaft“.
In den Jahren 1987 bis 1994 wurde das Kraftwerk modernisiert. Rohrleitungen, Heißdampfleiter, Reduzierstationen und der Kran des nun außenliegenden Kohlelagers wurden erneuert.
1994 wurde das Kraftwerk stillgelegt und seit dem kontinuierlich zurückgebaut (abgerissen).
Im September 2010 stehen nur noch die 3 Schornsteine. Wie lange noch?
Bild 1 Das Kraftwerk Muldenstein 1914. Blick auf das Kesselhaus. Gut zu erkennen die Zuführungsgleise zu den Kohlebunkern. Damals verlief die Strecke zwischen Bitterfeld und Burgkemnitz noch direkt am Kraftwerk vorbei. Später wurde sie wegen des Braunkohlenabbaus verlegt.
Bild 2 Innenansicht des Kesselhauses.
Bild 3 Lageplan des Kraftwerkes Muldenstein
Bild 4 Ansicht des Kraftwerkes mit den 3 markanten Schornsteinen
Bild 5 Innenansicht des Maschinenhauses mit den Dampfturbinen und den SSW-Generatoren.
Alle Bilder aus der Zeitschrift für Bauwesen 1914.
Mathias